Chronologie der Dendrochronologie

(In Bearbeitung !!!)

Wann wurden Jahrringe zum erstenmal beschrieben, wann erstmals ihr jährlicher Charakter erkannt, wann die Jahrringe verschiedener Bäume miteinander verglichen und synchronisiert (Cross-Dating), wann Jahrringchronologien erstellt und damit historische Gebäude etc. mittels der Dendrochronologie datiert?

Dazu ist vieles gesagt, und wie mir scheint, gelegentlich auch übertrieben worden. Die meisten Texte, die die Geschichte der Dendrochronologie behandeln, verweisen auf:

R. A. Studhalter: Tree Growth, I. Some Historical Chapters, The Botanical Review Vol. XXI, January-March, 1955, Nos. 1-3, S. 1-73.

Das Problem bei Studhalter ist freilich, dass er meist die Quellen nicht ausführlich zitiert und auch bei den Quellenangaben nur den Verfasser bzw. Herausgeber und das Jahr angibt, also keine Kapitel- oder Seitenangaben macht, und sich somit der "Beleg" nur schwer ermitteln lässt. Glücklicherweise ermöglicht z.B. "books.google.de" in vielen Fällen mittlerweile gute Suchmöglichkeiten auf ältere Bücher, und auch sonst werde ich mich auf die Suche begeben. Ich verwende also Studhalter als Ausgangspunkt, versuche aber gleichzeitig die Quelle aufzufinden und, natürlich, zu interpretieren.


Theophrastos von Eresos (ca. 300 v. Chr.)

Der erste, der Jahrringe von Bäumen erkannt haben soll, ist Theophrast (ca. 371 - 287 v. Chr.), geboren auf Lesbos und Schüler des Aristoteles. Theophrast hat zwei umfangreiche und, wie vermutet wird, weitgehend vollständig überlieferte Bücher über Botanik verfasst. Das bekanntere lautet "Naturgeschichte der Gewächse" (in 9 Büchern) und wurde auf deutsch 1822 von K. Sprengel herausgegeben, worauf ich mich im folgenden beziehe.

Es heisst z.B. (http://web.utk.edu/~grissino/ltrs/lectures/dendro%20history.ppt aus Henri D. Grissino-Mayer's "Ultimate Tree-Ring Web Pages"):

  • Theophrastus of Erusus
    • Greece 322 B.C.
    • Pupil of Aristotle
    • Wrote "History of Plants" in 9 volumes
    • Last volume titled "Causes of Plants"
    • Mentioned growth rings in two fir species
    • Recognized the annual nature of tree rings

Ich habe Kapitel 9 der "Naturgeschichte" ganz gelesen (Sprengel), aber keinen einzigen Hinweis auf Jahrringe gefunden, und schon gar nichts bezüglich "annual nature". Die "Causes of Plants" sind sowieso eher ein Verweis auf Theophrasts zweites botanisches Werk, von dem aber auch Studhalter nur das erste "Volume" kannte. Kurz gesagt, was Grissino-Mayer über Theophrast sagt, ist irreführend, und, wie sich gleich noch zeigen wird, übertrieben.

Hilfreicher und auch den gegenwärtigen Wissensstand wiedergebend ist: Rupert Wimmer: Arthur Freiherr von Seckendorff-Gudent and the early history of tree-ring crossdating, Dendrochronologia 19(1), 2001, S. 153-158.

Wimmer schreibt einleitend: "The first recognition of the presence of growth layers in trees goes most likely back to Theophrastus of Eresus (c. 372-287 B.C.) who stated that the bark of the silver-fir has many layers, like an onion, and another layer is always beneath the one visible. He did not make a clear distinction between bark and wood, nevertheless, he recognized the presence of rings in conifers (Studhalter 1955)." -- Studhalter, S. 10-11. Das scheint der härteste Beleg dafür zu sein, dass Theophrast die Jahrringe von Bäumen gekannt haben soll.

Das Zitat findet sich in Sprengels Theophrast-Ausgabe auf Seite 191/92 (Fünftes Buch, Kapitel 1) und lautet:

"Die Tannenrinde besteht aus mehreren Schichten, wie die Zwiebel; denn es liegt immer eine Schicht unter der andern, und die ganze Rinde besteht aus diesen Schichten. Daher pflegen, die die Ruder glätten, es zu versuchen, die Rinde einzeln und gleichmäßig wegzunehmen; denn tun sie dies, so wird das Ruder stark."

Ich kann Studhalter überhaupt nicht folgen, warum das ein Beleg für eine Erkenntnis von Jahrringen sein soll, denn diese erscheinen im Holz und nicht in der Rinde. Wenn überhaupt, dann würde ein "vielleicht" gerade noch zutreffen, wenn man die sonstigen Argumente abwägt. Dass Theophrast aber gar den jährlichen Charakter der Jahrringe erkannt haben soll, verneint auch Studhalter: "One cannot agree with the suggestion made by Nördlinger (1874) that the Greeks must have known that growth rings are annual; indeed, we can safely infer that Theophrastus must have such an abundance of multiple rings on hand that he did not recognize the annual character of any of the rings." (S. 13)

Man kann zugeben, dass Theophrast bei manchen Bäumen Jahrringe gesehen haben könnte, bei andern, wie Studhalter betont, sowieso kaum, wegen der schon südlichen Breiten, in denen Theophrast lebte. Analog: Man sieht ja auch die Korona bei einer totalen Sonnenfinsternis deutlich, man achtet heute sehr darauf, und dennoch haben sie die "Alten" nicht gekannt bzw. sie hatte keine Bedeutung für sie. Vielleicht ist das ähnlich auch mit den Jahrringen der Bäume. Jedenfalls scheint aus der Antike kein weiterer Beleg zu Jahrringen vorzuliegen, Studhalter folgend.


Unterm Kalifat des al-Mutawakkil (847-861 n.Chr.) oder: Die Zypresse des Zarathustra

Ein Zeugnis besonderer Art, Studhalter S. 15: "The following very interesting statement is taken from Hawks and Boulger (1928): When, about A.D. 850, the Caliph Motewekkil cut down all the sacred Cypresses of the Magians, this one is said to have shown 1450 annual rings of growth. Further details, which would be so interesting and illuminating, are lacking."

Ein sehr seltsames Zitat, und schwer zu entschlüsseln, um was es sich handeln soll.

Ich werde doch recht schnell fündig, zunächst in der englischen Wikipedia. Es handelt sich um die legendäre "Zypresse von Kaschmar"(Cypress of Kashmar), einer Stadt im Nordosten Irans, früher Torschiz genannt. Zarathustra soll diese Zypresse aus dem Paradies mitgebracht haben:

"The Cypress of Kashmar is a mythical cypress tree of legendary beauty and gargantuan dimensions, celebrated in the Iranian epic Shahnameh and other sources. Although the story of its genesis seems of pure mythical origin, the fact of its existence and the incidence of the felling is historically proven.
In the Shahnameh it is said to have sprung from a branch brought by Zoroaster from Paradise and to have stood in today's Razavi Khorasan Province in northeastern Iran and to have been planted by Zoroaster in honor of the conversion of King Vishtaspa to Zoroastrianism. According to the Iranian physicist and historian Zakariya Qazvini, King Vishtaspa had been a patron of Zoroaster who planted the tree himself. In his cosmology, he further describes how the Abbasid Caliph Al-Mutawakkil in 247 A.H. (861 A.D.) caused the mighty cypress to be felled, and then transported it across Iran, to be used for beams in his new palace at Samarra. Before, he wanted the tree to be reconstructed before his eyes. This was done in spite of protests by the Iranians, who offered a very high sum of money to save the tree. Mutawakkil never saw the cypress, because he was murdered by a Turkish soldier (possibly in the employ of his son) on the night when it arrived on the banks of the Tigris." (engl. Wikipedia, Stand Juli 2009)

Zarathustra hätte demnach im frühen 6. vorchristlichen Jahrhundert gelebt, eine Datierung, die auch anderweitig bevorzugt wird. (Franz Altheim und Ruth Stiehl: Das Jahr Zarathustras, in: Altheim/Rehork: Der Hellenismus in Mittelasien, Darmstadt 1969 (WBG)).

Zypressen können sehr alt werden, habe ich gefunden, durchaus 2000 Jahre. Kaschmar liegt zudem gut 1000 Meter über dem Meeresspiegel und könnte einem ausgeprägten jahreszeitlichen Wetterwandel unterliegen, somit könnten deutliche Jahrringe entstanden und beobachtet bzw. gezählt worden sein.

Wie es aussieht, gibt es tatsächlich die Überlieferung, dass das Alter des gefällten Baums mittels des Zählens der Jahrringe bestimmt wurde:
"At Kâshmar in northeast Iran, a famous cypress still reminds the visitor that on this place Zarathustra won a decisive victory in a debate with his opponents; his host, king Hystaspes, became an adherent of Zarathustra's new religion (text). In 838 CE, an ancestor of the modern tree was cut down; rings were counted and it was found out that the tree was 1450 years old. This would suggest that the seed was sown in 597 BCE, only one year before the date from the Bundahishn." (Jona Lendering: A Zoroastrian date (2001), Livius.org)

Fragt sich, wann diese Überlieferung entstand und wie der Text genauer lautet.

Johann August Vullers hat 1831 die "Fragmente über die Religion des Zoraster" herausgebracht, und darin findet sich einiges zur "Cypresse von Kischmer":

Auf S. 72 wird dazu aus dem Schahname eine Passage wiedergegeben, dazu folgt die Anmerkung 20 (S. 113 - 115), wo zitiert wird aus "Burbank [Burhan al-Haqq] und dem Siebenmeer" (persisch und danach in deutscher Übersetzung):

"Als der Abbaside Motawakkel den Dschafaristischen Palast bei Samira bauen ließ, gab er dem Befehlshaber von Chorasan, Taher ben Abdallah, den Befehl, die Cypresse von Kischmer abzuhauen und den Stamm auf Wagen, die Äste aber auf Kamelen nach Bagdad zu bringen. Einige Magier boten dem Taher 50.000 Dinare für die Cypresse an, er aber wollte nicht und befahl den Baum zu fällen. Sein Sturz verursachte eine solche Erschütterung auf der Erde, dass die Kanäle und Gebäude dieser Gegend großen Schaden litten. Die Cypresse war 1450 Jahre alt, und der Umfang ihres Stammes betrug 28 Peitschenlängen; unter ihrem Schatten konnten mehr als 2000 Rinder und Schafe ausruhen. Unendlich viele Vögel von den verschiedensten Gattungen hatten in ihr ihre Nester gebauet, so dass bei ihrem Sturze die Sonne von dieser Menge Vögel verfinstert wurde. Zur Fortschaffung ihrer Äste waren 1300 Kamele nötig, und die Kosten des Transports bis Bagdad beliefen sich auf 500.000 Dirhem. Als die Cypresse bei einem dschafaritischen Gebäude angelangt war, wurde Motawakkel in derselben Nacht von seinen Dienern in Stücken zerhauen. Siehe über Motawakkels Tod Abulfed. Annal. Moslem. Th. II, S. 204."

Von Jahrringen ist in dieser persischen Überlieferung keine Rede. Aber dem Hinweis auf Abulfeda werde ich noch nachgehen.

Die deutsche Wikipedia schreibt dazu (Juli 2009):


Abu l-Fida (auch Ismail Abu l-Feda, arabisch ‏أبو الفداء‎, DMG Abū l-Fidāʾ; * 1273 in Damaskus; † 27. Oktober 1331 in Hama) war ein arabischer Chronist und Geograph.

Er dokumentierte auf Seiten der Muslime einen der Kreuzzüge in seinem Werk Mukhtassar tarikh al-Bashar.

Schon als Jugendlicher war er an den Zügen der Mamluken gegen Tripolis und Akkon beteiligt. 1289 nahm er an der Belagerung von Tripolis und 1291 von Akkon, den letzten Hochburgen der Kreuzfahrer, teil. 1310 wurde er Statthalter von Hama und 1320 erhielt er den vererblichen Titel des Sultans.

Werke

  • Mukhtasar ta’rikh al-bashar; Eine kurze Geschichte der Menschheit, auch Chronologie der Ereignisse bis 1329
  • Taquin al-buldan; (Geographie), 1321

Dieser Abulfeda scheint früher die wichtigste Geschichtsquelle der westeuropäischen Schriftsteller zum arabischen Kulturkreis gewesen zu sein, aus der z.B. auch Gibbon einiges verwendet hat.

Aus der englischen und deutschen Wikipedia finde ich weiter, dass auch Johann Jakob Reiske (1716-1774) dieses Geschichtswerk herausgegeben und übersetzt hat: "Reiske gilt als Begründer der arabischen Philologie und als Pionier der arabischen Numismatik und Epigraphik. Er beförderte die arabische Philologie von einer theologischen Hilfswissenschaft zu einer eigenständigen Disziplin. Trotz seiner Bemühungen fand er zeit seines Lebens kaum Anerkennung, in einer Lebensbeschreibung nannte er sich einen Märtyrer der arabischen Literatur. Seine Textausgabe und Übersetzung von Abu'l-Fidas Geschichtswerk erschien postum." Der vollständige Titel des arabisch/lateinischen Textes lautet: Annales Muslemici Arabice Et Latine und ist in fünf Bänden zwischen 1789 und 1794 erschienen. Band 2 werde ich mir in der Uni-Bibliothek ausleihen und auf S. 204 blättern.

( .... )


Leonardo da Vinci (1452 - 1519)

Albertus Magnus soll im 13. Jahrhundert Jahrringe erwähnt haben (Studhalter, S. 15), aber das scheint noch weniger signifikant zu sein, als die Überlieferung durch Theophrast, und somit gehe ich dieser Sache vorerst nicht weiter nach.

Ganz deutlich, und wohl zum erstenmal, hat Leonardo da Vinci ca. 1500 ausgesprochen, dass die Jahrringe von Bäume sich jährlich bilden und ihre Wachstum von der Witterung, feucht und trocken, abhängt:

"Die Ringe der Äste der gesägten Bäume zeigen die Anzahl ihrer Jahre und welche feuchter und trockener waren gemäß ihrer größeren oder kleineren Dicke. Und so zeigen sie das Aussehen der Welt, der sie sich zugewandt haben, denn sie sind dicker im Norden als im Süden." (Leonardo da Vinci, zitiert nach Stefan Liebert: Eichenchronologie im Raum Wien (1462-1995), Wien 1996 (Internet-Version), S. 11; der wiederum zitiert aus F. H. Schweingruber: Jahrringe und Umwelt - Dendroökologie, Birmensdorf 1993, S. 35. -- Schweingruber wiederum scheint sich darauf zu beziehen: Elio Corona: Dendrochronologia: Principi e applicazioni. Atti del Seminario tenuto a Verona nei giorni 14 e 15 novembre 1984. Verona, Istituti Italiano di Dendrochronologia, 1986. 103 pp.)

Das ist gigantisch im Vergleich zu den vorherigen Überlieferungen, die dagegen nur schemenhaft sind! Was hat dieser Leonardo eigentlich nicht noch alles "erfunden"?

Studhalter (S.16 ) vermutet, dass das Wissen Leonardos auf die damalige Holzindustrie einwirkte, und von dessen Vertretern, ca. 80 Jahre später, wiederum auf Montaigne (siehe nächstes Kapitel) übermittelt wurde, als dieser Italien besuchte:

"It would appear very likely, indeed, that the knowledge of the engineer, Leonardo, was passed on in his own time to the wood industry which, some 80 years later, transmitted it to Montaigne."

Dieses Szenario erscheint mir aber unglaubwürdig. Denn die Aufzeichnungen Leonardos waren lange Zeit nahezu ganz unbekannt gewesen bzw. gar nicht publiziert worden. Viel eher scheint mir, dass Leonardo vom Wissen der damaligen "wood industry" Kenntnisse erhalten hatte und diese in seinem Satz prägnant zusammenfasste.

"Bis 1797 war also den naturwissenschaftlichen Kreisen der Name Leonardo da Vinci fast fremd. Da erschien die Schrift von Venturi: Essai sur les ouvrages physico-mathématiques de L. de V. in Paris und verbreitete zuerst die verlorne Kunde von Schriften des Leonardo, die in das (!) Bereich der induktiven Wissenschaften gehören. Dieselben waren 1796 von den Franzosen nach Eroberung Mailands nach Paris zum Teil übergeführt, während sie zuvor in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand wohlgeborgen und der Einsicht des Publikums wenig zugänglich geruht hatten." (Hermann Grothe: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph, Berlin 1874, S. 20.)

Schwerer deutbar ist die Aussage Leonardos, wonach die Jahrringe "dicker im Norden als im Süden" seien. Stefan Liebert merkt zum Leonardo-Text an: "Mit Norden bzw. Süden ist vermutlich die geographische Lage in Italien gemeint" - also, dass Jahrringe in nördlicheren Breiten und höheren Lagen deutlicher ausgeprägt seien also in südlicheren, die weniger jahreszeitlichen Schwankungen ausgesetzt sind.

Indes schreibt Hermann Grothe zum Leonardo-Text (S. 63): "Die Bildung der Jahresringe und ihre verschiedene Dicke führt er zurück auf die größere oder geringere Feuchtigkeit des Jahres und findet einen Unterschied in dem Abstande des Zentrums von der nördlichen Seite der Borke gegenüber der südlichen, indem er diesen Abstand für ersten Fall größer nennt."

Ich habe zuerst die Deutung Lieberts für weit plausibler gehalten, sie erscheint auch dem heutigen Kenntnisstand gemäßer. Aber irgendwie neige ich doch eher zur Auffassung Grothes: Leonardo will doch sagen, dass mehr Feuchtigkeit mehr Baumring-Dicke produziert und Trockenheit weniger. Die Nordseite eines Baumes ist aber mehr der Nässe ausgesetzt, während seine Südseite mehr von der Sonne ausgetrocknet wird, und somit weniger wächst. -- Oder anders gesagt: Leonardo hat zwar eindeutig den jährlichen Charakter der Jahrring-Bildung erkannt, aber über die vielseitigen Ursachen, die zur Herausbildung der Jahrringe beitragen, hat er erst einen wichtigen Faktor ahnen können.


Michel de Montaigne (1533 - 1592)

Montaigne unternahm 1580/81 eine Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland, besonders um die Heilbäder Italiens zu besuchen, wegen eines Nieren- und Blasenleidens. Bei der Rückfahrt weilte er längere Zeit in Lucca, und machte von dort auch Ausflüge in die übrige Toskana. Bei der "Mündung des Arno", also in Pisa, kaufte er verschiedene Holzsachen: ein "Tamariskenfäßchen", einen "indischen Stock", eine "kleine Schale und ein Becher aus Kokosnuss, die für Milz und Nieren gleiche Dienste tun wie die Tamariske". Und berichtet dann:

"Der Handwerker, ein geschickter und wegen seiner schönen mathematischen Instrumente berühmter Mann, lehrte mich, dass alle Bäume gerade so viel Ringe tragen als sie Jahre haben; und er zeigte es mir an allen Arten, die er in seiner Werkstätte hatte -- er ist Schreiner. Der Teil, der nach Norden sieht, ist dabei schmäler, die Ringe enger und dichter. Er rühmte sich daher, dass er von jedem Holz, das man ihm bringe, das Alter aufs Jahr und die Lage angeben könne." (Michel de Montaigne: Tagebuch einer Badereise, übersetzt von Otto Flake, Stuttgart 1963, Steingrüben Verlag, S. 310)

Hier wird ganz dieselbe Geschichte wie bei Leonardo da Vinci erzählt, die aus gebildeten Handwerkerkreisen zu stammen scheint. Auffällig wiederum diese Nord-Süd-Betonung, nur dass im Gegensatz zu Leonardo nördliche Lagen geringere Jahrringbreiten haben.

Hier wäre vielleicht diese Interpretation angebracht: Bei einem Wald haben die Bäume, die im Norden liegen, ein geringeres Wachstum gegenüber denen, die im Süden liegen und von der Sonne beschienen werden. Oder, dies verstärkend und wohl zutreffend: gemeint ist die Nord- und Südlage bei Hügeln und Bergen, wo auf der Sonnenseite deutlich mehr Wachstum zu verzeichnen ist.

Insofern (und sofern keine Abschreib- und Übersetzungsfehler vorliegen) stellt Montaigne den Sachverhalt richtiger dar als Leonardo.

Einen größeren Einfluss auf andere gelehrte Kreise, z.B. an den Universitäten, konnte auch Montaignes Tagebuch nicht ausüben, denn es wurde erst ca. 1770 von Joseph Prunis entdeckt und 1774 -- Prunis übergehend -- veröffentlicht. Auch später hat dieses Reisetagebuch bei weitem nie die Popularität der Essais erreicht. (Vgl. Vorwort Otto Flake.)

Aus den beiden Textstellen bei Leonardo da Vinci und Montaigne ergibt sich für mich dieses ungefähre Bild: dass die Ringe der Bäume einen jährlichen Charakter haben und dass ihr jährlicher Wachstum von den Niederschlägen und dem Sonnenlicht abhängt, war im 15. Jahrhundert in Handwerker- und Ingenieurskreisen bekannt, vielleicht sogar selbstverständlich. Aber die eigentlich gelehrten Kreise an den höheren Schulen und Universitäten, haben davon nichts gewusst oder wissen wollen, und so blieben vorerst systematischere Untersuchungen zur Jahrringbildung aus.

H. L. Duhamel DuMonceau

Von der Ursache, warum die holzigen Ringe in den Bäumen an einem Ort weiter von der Mitte abstehen, an an dem andern.

In: Hannoverische Beyträge zum Nutzen und Vergnügen 1759, 1.T., S. 219 – 222

(Aus Hrn. du Hamel la Physique des Arbres, T. I. p. 49.)

Wenn man den Stamm eines Baumes quer durchschneidet, so bemerket man, dass die holzigen Ringe nicht allezeit ihren Mittelpunkt just in der Achse des Baums haben, sondern dass sie gemeiniglich sich auf der einen Seite mehr, als auf der andern von der Mitte entfernen, und also an einem Ort weiter, als an dem andern sind. Einige Schriftsteller haben geglaubt, es geschehe dieses hauptsächlich auf der Nordseite. Verschiedene andere haben vorgegeben, es geschehe auf der Mittagsseite; die einen aber sowohl, als die andern sind darin übereinstimmig, dass sie behaupten, verirrten Reisende fänden in dieser ungleichen Weite der holzigen Ringe einen natürlichen Kompass, der ihnen die verschiedenen Gegenden genau anziegen, und sie in den Stand setzen könnte, den rechten Weg zu treffen.

Man hat deswegen die bewundernswürdige Weisheit der Natur mit den größten Lobsprüchen erhoben, die denjenigen, die sie beobachten wollen, just zur rechten Zeit dadurch den Nutzen schaffen, den sie bedürfen; man hat es sogar gewagt, von diesem Umstande physikalische Ursachen anzugeben. Diejenigen, welche behaupteten, die holzigen Ringe wären ordentlicher Weise weiter auf der Nordseite, führten zur Ursache an: weil die Sonne auf dieser Seite eine geringere Wirkung hätte, so erhielte sich die Feuchtigkeit da viel länger, woraus notwendig auf dieser Seite eine größere Weite der holzigen Ringe entstehen müsse; diejenigen hingegen, welche beobachtet haben wollten, die Ringe seien weiter auf der Mittagsseite, sagten: da hauptsächlich die Sonne den Saft in Bewegung setze, so verursache sie, dass er auf dieser Seite in größerer Menge aufsteige: es fand also jeder physikalische Ursachen, die seiner Meinung günstig waren. Es ist sowohl for die einen, als die andern verdrießlich, dass eine genauere Beobachtung dieser Sache ihr System völlig zerrütte.

Wir haben in der Tat bemerkt, dass die Ringe sehr oft, und fast allezeit auf einer Seite weiter, als auf der andern, sind: allein, nach unsern genauen Beobachtungen geschiehet dieses ohne Unterschied, sowohl auf der Nordseite, als der Südseite, sowohl auf der Seite gegen MOrgen, als gegen Abend. Dieser vorgegebene Kompass also ist sehr vielen Veränderungen und Abweichungen unterworfen, die den verirrten Wandersmann, der sein Vertrauen darauf setzen wollte, sehr irrig führen, und gewaltig von seinem rechten Wege ableiten würden. Es hat aber auch dieser Kompass noch einen andern Fehler. Denn wir haben bemerkt, dass bisweilen in dem nämlichen Baum die größere Weite der Ringe den ganzen Stamm durch sich sehr veränderlich zeige, so, dass, wenn bei der Wurzel die größere Weite auf der Mittagsseite ist, solche oben bei den Ästen öfter auf die Nordseite, oder auf irgend einer andern Seite des Baums sich findet.

Nach unsern vielfältig wiederholten Beobachtungen hängt diese Ungleichheit in der Weite der Ringe oder die Dicke der holzigen Lagen bloß von der Verschiedenheit der Wurzeln oder Äste, die an dieser Seite aus dem Stamme hervor kommen, ab. Wenn auf der Nordseite eine große dicke Wurzel ist, so werden die holzigen Lagen unten in dem Baume auf dieser Seite dicker sein, weil der Saft in größerer Menge dahin gehet. Wenn hingegen oben aus dem Baume auf der Mittagsseite ein starker Ast entspringet, so werden an dieser Stelle die holzigen Lagen auch auf der Mittagsseite dicker und die Ringe weiter sein, weil der Saft nach dieser Gegend in größerer Menge hingezogen wird, so, dass die unendliche Verschiedenheit in der Lage und Richtung der Wurzeln und Äste eben so beträchtliche Veränderungen in der Dicke der holzigen Lagen und die Weite der Ringe verursachet. Es geschiehet also sehr oft, dass das Wunderbare verschwindet, wenn man die Natur aufmerksam betrachtet.

(Dieser Abschnitt findet sich sehr ähnlich übersetzt auch in Du Hamel Du Monceau: Naturgeschichte der Bäume, erster Teil, übersetzt von Carl Christoph Oelhafen von Schöllenbach, Nürnberg 1764, S. 79 f.)


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