KARL DER GROSSE ILLIG

Oder doch eine "karolingische Astronomie"?

von Franz Krojer

"Zahlreiche Vorzeichen hatten seinen herannahenden Tod angezeigt, so dass er selbst und andere Leute es empfunden hatten. In den letzten drei Jahren seines Lebens gab es sehr viele Sonnen- und Mondfinsternisse; sieben Tage lang sah man einen schwarzen Fleck auf der Sonne; der Säulengang zwischen der Kirche und dem Palast, den er mit großer Mühe hatte errichten lassen, stürzte am Himmelfahrtstage plötzlich völlig ein. Auch hatte Karl bei Mainz eine hölzerne Brücke über den Rhein schlagen lassen, die zehn Jahre schwerste Arbeit gekostet hatte und so geschickt gebaut war, dass es schien, als müsste sie ewig bestehen. Durch ein zufällig entstandenes Feuer wurde sie dann binnen dreier Stunden vollkommen eingeäschert, so dass nicht einmal ein Holzspan von ihr übrigblieb, soweit sie nicht unter Wasser stand. Während seines letzten Feldzuges in Sachsen gegen den Dänenkönig Gottfried hatte Karl eines Tages gerade vor Sonnenaufgang das Lager verlassen und den Marsch angetreten, als er plötzlich einen mächtigen Feuerstrahl mit hellem Schein von rechts nach links über den klaren Himmel blitzen sah. Alle wunderten sich, was das Zeichen bedeuten sollte, da stürzte plötzlich sein Reitpferd kopfüber und warf ihn so heftig zur Erde, dass die Spange seines Umhangs zerbrach und der Schwertgurt zerriss. Karl musste, nachdem man ihm seine Waffen und den Umhang abgenommen hatte, von den herbeieilenden Dienern aufgehoben werden. Die Lanze, die er in der Hand gehabt hatte, wurde dabei fortgeschleudert, so dass sie über zwanzig Fuß weit entfernt lag. Hinzu kam, dass der Palast in Aachen häufig erschüttert wurde, und die Dächer der Gebäude, in denen er sich aufhielt, knackten beständig. Auch hatte der Blitz in die Kirche eingeschlagen, in der er später begraben wurde, und die vergoldete Kugel, die die Spitze des Daches zierte, war zerschmettert und auf das danebenliegende Haus des Bischofs geworfen worden." (Einhard, Seite 59f.)

Bei dieser Schilderung der Vorzeichen des Todes Karls des Großen durch seinen Biografen Einhard, ca. 836, also gut 20 Jahre nach Karls Tod (814), entstanden, ist Einhards Vorbild Sueton in Sachen Kaiserbiografien erkennbar - astrologische Übertreibungen bzw. Verformungen verschiedenster astronomischer, geophysikalischer und sonstiger "Zeichen", die teilweise durchaus stattgefunden haben mögen, aber eben übertrieben und abergläubisch geschildert sind. "In Wirklichkeit stürzte dieser Säulengang erst 817 ein" (Einhard, Anmerkung 106, Seite 81), und auch das vermehrte Auftreten von Sonnen- und Mondfinsternissen ist alles andere als glaubwürdig, vom Knarren der Gemäuer ganz abgesehen.

Und dennoch ragen zwei astronomische Ereignisse aus diesen konventionellen Übertreibungen kraft ihrer realistischen Schilderung heraus: zum einen die Szene mit dem Boliden ("Feuerkugel"), d.h. einem sehr hellen Meteor ("Sternschnuppe"); zum anderen der "schwarze Fleck" auf der Sonne - als ob hier tatsächlich Sonnenflecken beobachtet bzw. registriert wurden, was bei sehr großen Flecken bei Auf- und Untergängen der Sonne mit bloßem Auge durchaus möglich ist. Es handelt sich um die erste bekannte Beobachtung eines großen Sonnenflecks in Europa aus vorteleskopischer Zeit, während die Aufzeichnungen solcher Phänomene in China mindestens bis in das Jahr 165 v. Chr. zurückreichen. (Wittmann, Seite 232) Man hat den Eindruck, dass man sich zur Zeit Karls des Großen mit Astronomie beschäftigte und auch Himmelsbeobachtungen durchführte.

Eine Passage aus den Reichsannalen verstärkt diesen Eindruck nochmals: "Im vorigen Jahr [806] war am 2. September eine Mondfinsternis, damals stand die Sonne im sechzehnten Grad der Jungfrau, der Mond aber im sechzehnten Grad der Fische. In diesem Jahr [807] aber war es den letzten Januar am 17. des Mondmonats, als der Jupiter durch den Mond hindurchzugehen schien, und am 11. Februar war um Mittag eine Sonnenfinsternis, bei der beide Himmelskörper im 25. Grad des Wassermanns standen. Wiederum war am 26. Februar eine Mondfinsternis, und es erschienen in derselbigen Nacht Schlachtreihen von wundersamer Größe, die Sonne stand im 11. Grad der Fische, der Mond im 11. Grad der Jungfrau. Am 17. März erschien auch der Merkur vor der Sonne wie ein kleiner schwarzer Fleck, ein wenig über ihrer Mitte, und wurde acht Tage lang von uns gesehen. Wann er jedoch in die Sonne eintrat und wieder heraustrat, konnten wir vor Wolken durchaus nicht bemerken. Wiederum war am 22. August in der dritten Stunde der Nacht eine Mondfinsternis, bei der die Sonne im fünften Grad der Fische stand. So wurde seit dem September des vorigen bis zum September des jetzigen Jahres der Mond dreimal und die Sonne einmal verfinstert." (Reichsannalen für das Jahr 807, zitiert auch von Illig auf Seite 92.)

Bei diesem Text ist wiederum die Erwähnung des "schwarzen Flecks" auf der Sonne auffällig, der als Merkurdurchgang gedeutet wird, sowie die "präzisen" Gradangaben für Sonne und Mond zu fast jedem Ereignis, und auch, dass Jupiter vom Mond verfinstert wurde. Aus diesen Ereignissen glaubt Illig einen "Indizienbeweis" führen zu können, wonach die Reichsannalen gar nicht aus dem 9. Jahrhundert stammen können, sondern vermutlich erst "nach 1150" entstanden seien. (Illig, Seite 96)

Dieser "Indizienbeweis" schien mir beim ersten Lesen des Abschnitts "Karolingische Astronomie" zumindest interessant, doch leider stellte sich erneut heraus, dass es Illig an astronomischen Grundkenntnissen und Einfühlungsvermögen fehlt und der "Indizienbeweis" sich als gekünstelt erweist, um 300 Jahre wegzuzaubern.

Illig meint, "dass die karolingische Präzision eine völlig unzeitige ist, da ihr hoher Stand erst Ende dieses 12. Jahrhunderts, also auf keinen Fall vor den Zeiten Barbarossas, wieder gepflegt wird." (Seite 93) Das klingt einleuchtend - aber nur auf den ersten Blick. Im Gegenteil: die Präzision kann vorgetäuscht und nur errechnet sein - wie das bei antiken Horoskopen durchaus der Fall war. Man rechnet auf Bogenminuten, ja Sekunden genau, um möglichst wissenschaftlich zu erscheinen, aber die berechneten Positionen können von den wirklichen Positionen um viele Grad differieren. (Siehe hierzu "Horoskope kontra Phantomzeit?") Es ist eine Pseudo-Präzision - bei den karolingischen Astronomen (einmal unterstellt, dass es sie gegeben hat) möglicherweise der Versuch, die antiken Astronomen nachzuahmen oder es der arabischen Wissenschaft gleichzutun; genauer gesagt stimmen die Gradangaben der karolingischen Überlieferungen zwar grob, streuen jedoch unsystematisch um mehrere Grade gegenüber heutigen Rückrechnungen, wie mir Dr. Wolfgang Kokott (München) vorrechnete.

Illig glaubt weiterhin aus dem "Merkurdurchgang" von 807, wie er in den Reichsannalen geschildert wird, und aus der Schilderung Einhards vom "schwarzen Fleck" vor der Sonne "in den letzten drei Jahren" vor Karls Tod, d.h. 811-814, Unstimmigkeiten ableiten zu können. Seltsam ist, dass Illig die Schilderung Einhards und der Reichsannalen getrennt behandelt, obwohl in beiden von einem "schwarzen Fleck" vor der Sonne die Rede ist, der 7 (Einhard) bzw. 8 Tage (Reichsannalen) sichtbar gewesen ist. Wie bereits eingangs festgestellt, versuchte Einhard möglichst viele "Vorzeichen des Todes" in den letzten Jahren unterzubringen, egal ob manches früher oder sogar nach dem Tod Karls geschah - eine der häufigen "Verformungen", wie wir sie bei vielen Schilderungen großer historischer Ereignisse oder Personen finden (Demandt). Reichsannalen und Einhard beziehen sich also sehr wahrscheinlich auf das selbe Ereignis.

Die einfachste Interpretation lautet: man beobachtete 807 tatsächlich wiederholt einen großen Sonnenfleck, 8 Tage ist durchaus eine realistische Zeit dafür. Jedoch kann die Sonne im aristotelischen oder ptolemäischen Weltbild keine solchen Makel haben, es muss also der Merkur gewesen sein, der in unterer Konjunktion zu und vor der Sonne stand. Genau berechnen ließ sich die Merkurbahn ohnehin noch nicht, denn damals waren - sieht man von den Arabern ab - die Schriften des Ptolemäus noch nicht einmal bekannt, sondern nur antike Kommentare und Zusammenfassungen darüber; aber im Rahmen des ptolemäischen geozentrischen Systems sind solche Merkurdurchgänge theoretisch möglich und wurden im Falle der Beobachtung des "schwarzen Flecks" von den karolingischen Astronomen so umgedeutet, während Einhard dieses Ereignis als "Zeichen" schildert, das er in die letzten drei Jahre Karls schiebt. Warum Merkur und nicht die Venus? Auch das wäre theoretisch möglich. Jedoch: die Venus ist viel häufiger als Abend- oder Morgenstern in großem Abstand von der Sonne zu beobachten, während der Merkur sich immer in Sonnennähe aufhält und viel seltener beobachtbar ist. Selbst Kepler deutete Sonnenflecken - kurz vor ihrer tatsächlichen Erklärung als Bestandteile der Sonne - noch auf diese Weise um: "Ein wenig kurios erscheint, dass Johannes Kepler am 28. Mai 1607 in einer Camera obscura einen Sonnenfleck sah, diesen jedoch für den vor der Sonnenscheibe vorübergehenden Merkur hielt; offenbar war er auf eine solche Beobachtung geistig nicht vorbereitet!" (Hamel, Seite 187) In seiner Schrift "Phaenomenon singulare seu Mercurius in sole" (1607) berichtet Kepler sogar von den Flecken- bzw. "Merkurdurchgängen" zur Zeit Karls des Großen, und erst später, 1611, wurde ihm dann klar, dass es sich in beiden Fällen wohl um Sonnenflecken gehandelt haben muss. (Zinner, Seite 350)

Die Interpretation Illigs zum Merkurdurchgang: "Wer also im 9. Jahrhundert einen Merkur-Durchgang vor der Sonne behauptet, stellt zweierlei klar: Er kennt die Bahn des Merkur so weit, dass er um dessen Passagen vor und hinter der Sonne weiß; er hat aber keine intensiven Beobachtungen des Merkur angestellt, sonst hätte er gewusst, dass ein Merkur-Durchgang keine acht Tage, sondern lediglich acht Stunden dauert." (Illig, Seite 95) Dieser Satz ist eigentlich in sich schon widersinnig, denn wer die Passagen des Merkur "vor und hinter der Sonne" tatsächlich halbwegs richtig berechnen kann, kann natürlich auch berechnen, dass ein Merkurdurchgang keine acht Tage dauert. Im Rahmen des ptolemäischen Systems ist aber die Schutzbehauptung naheliegend, anstatt einer makelhaften Verfleckung der Sonne einen Merkurdurchgang zu postulieren; dazu muss man gar nichts berechnen, sondern nur astronomisch wissen, dass der Merkur vor der Sonne stehen kann.

Zur Sonnenflecken-Beobachtung von Einhard bringt Illig diesen Einwand: "Heutige Fachleute interpretieren diesen angeblichen Merkurdurchgang als das Wandern eines großen Sonnenfleckens. Das klänge plausibel, wenn Sonnenflecken nicht erst ab 1610 im Abendland Be(ob)achtung gefunden hätten." (Illig, Seite 95) Wir sehen aber selbst bei Kepler noch, dass nicht jede Schilderung eines "schwarzen Flecks" vor der Sonne gleich zur Entdeckung wirklicher Sonnenflecken führen muss. Ein "schwarzer Fleck" vor der Sonne kann als böses Zeichen bei einem astronomisch weniger Gebildeten oder als "Merkurdurchgang" gedeutet werden.

Hauptsache wir haben uns durchgewurschtelt: "Auf jeden Fall ist nunmehr nachgewiesen, dass diese astronomische Passage von 807 niemals aus dem 9. Jahrhundert stammen kann. Weil sie nicht als späterer Zusatz angesehen wird, trifft dieses Verdikt die gesamten 'Reichsannalen'. Der Sonnenfleck aus der 'Karlsvita' lässt gleichermaßen an ein wesentlich späteres Entstehungsdatum von Einhards Werk denken." (Illig, Seite 96)

Und es geht weiter: "Lassen sich aus diesem Indizienbeweis Rückschlüsse auf die eigentliche Entstehungszeit der Reichsannalen ziehen?" (Illig, Seite 96) Die Reichsannalen behaupten ja, dass es sich bei dem "schwarzen Fleck" um einen Merkurdurchgang gehandelt habe. Aber, so Illig: "Für das astronomische Denken im Abendland wurde der Merkurdurchgang frühestens im 12. Jahrhundert bedeutsam. Damals griff Wilhelm von Conches eine zuletzt im 4. Jahrhundert vertretene These wieder auf, nach der sich Merkur und Venus um die Sonne drehen, diese jedoch um die Erde. Sie ist eine Kombination aus geozentrischem Weltbild - 'alles' dreht sich um die Erde - und unserem heliozentrischen Weltbild, in dem die Planeten um die Sonne kreisen, nur der Mond um die Erde. Wohl letzter Vertreter des Kombimodells war der schon genannte Tycho Brahe am Ende des 16. Jahrhunderts. Bei ihm sind Durchgänge von Merkur und Venus vor der Sonne ein beweiskräftiges Muss für die Anordnung von Erde, Sonne und inneren Planeten (das aber auch Wilhelm von Conches nur illustrierte, nicht beobachtete). So muss das Entstehen des einschlägigen 'Reichsannalen'-Textes nach 1150 unterstellt werden." (Illig, Seite 96)

Bei dieser Ausführung ist zuallererst zu beachten, dass es durchaus Differenzierungen bei den geozentrischen, heliozentrischen und den "Kombimodellen" gibt. Das aus der Antike stammende ägyptische Kombimodell geht etwa davon aus, dass Merkur und Venus um die Sonne kreisen, die Sonne und die übrigen Planeten (Mond - er galt als Planet -, Mars, Jupiter und Saturn) aber um die Erde. Stattdessen: "Im tychonischen Weltsystem bewegen sich (als Anleihe bei Kopernikus) zunächst alle Planeten, ausgenommen die Erde, um die Sonne, während sich dieses ganze Gebilde um die in der Weltmitte ruhende Erde bewegt." (Hamel, Seite 167) In beiden Kombimodellen können Merkur oder Venus zwischen Sonne und Erde treten und somit einen Durchgang vor der Sonne vollziehen. Durch Martianus Capellas Schrift "Über die Hochzeit Merkurs und der Philologie", die aus dem 5. Jahrhundert stammt und "eines der verbreitetsten Lehrbücher des Mittelalters werden sollte" (Lindberg, Seite 153), wurde auch das ägyptische Kombimodell verbreitet - auf Seite 155 von Lindbergs Buch ist sogar eine Zeichnung aus einer Handschrift, die dem 9. Jahrhundert zugeordnet wird, abgebildet, wo Merkur und Venus um die Sonne kreisen.

Aber auch bei den rein geozentrischen Modellen ist gerade im Hinblick auf Merkur- und Venusdurchgänge vor der Sonne eine Differenzierung vorhanden und schon in der Antike diskutiert worden. Zur Zeit Platons wurde noch angenommen, dass die Erde zuerst vom Mond, dann von der Sonne und erst dann von Merkur und Venus und den anderen Planeten umkreist wird (Timaios, I, 11, Seite 161), während vermutlich seit dem "2. vorchristlichen Jahrhundert" (Zinner, Seite 51) Merkur und Venus zwischen Erde und Sonne plaziert wurden, was sich so auch bei Ptolemäus findet.

Im Almagest Buch IX,1 (Toomer, Seite 419) versucht Ptolemäus zu rechtfertigen, wieso trotz seines Modells keine Merkur- oder Venusdurchgänge stattfänden, da von den Früheren dies als ein Argument gegen die Plazierung zwischen Erde und Sonne genannt wurde, und Ptolemäus setzt nunmehr dagegen, dass auch bei Neumond nur selten eine Sonnenfinsternis passiere und der Mond meist ober- oder unterhalb an der Sonne vorbeiziehe - bei Merkur und Venus sei das generell der Fall. In seiner späteren Schrift "Hypothesen der Planeten" erwägt Ptolemäus aber auch, so Toomer (Seite 419, Fußnote 2), dass solche Durchgänge durchaus stattfinden können, aber eben wegen der Kleinheit der beiden Planeten und der Helligkeit der Sonne nicht zu sehen seien.

Die Problematik war also schon früh klar: werden Venus und Merkur als untere Planeten aufgefasst, dann besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass wie im Falle des Mondes bei Sonnenfinsternissen auch diese beiden Planeten vor der Sonne vorübergehen, und es bedarf dann zusätzlicher Argumente und gekünstelter Annahmen, dass das nicht geschehen soll. Wer nur das ptolemäische System der Anordnung der Planeten kennt, kann also durchaus zu dem nahe liegenden Schluss kommen, dass ebenso wie der Mond auch Merkur und Venus vor der Sonne durchziehen können, denn bei Ptolemäus sind Merkur und Venus untere Planeten und können zwischen Sonne und Erde stehen.

Es ist also keineswegs so, dass nur bei bestimmten Kombimodellen Merkurdurchgänge ein "beweiskräftiges Muss" sind, denn auch beim geozentrisch-ptolemäischen Modell sind solche Durchgänge jederzeit möglich und eigentlich auch zwingend, wie dies gerade auch bei der ptolemäischen Argumentation deutlich wird.

Die Schilderungen Einhards und der Reichsannalen fügen sich durchaus in eine wissenschaftliche Kultur ein, wo das ptolemäische System durch antike Kommentare und Zusammenfassungen zwar schon bekannt gewesen sein könnte, ohne dass jedoch die Schriften des Ptolemäus selbst schon gelesen bzw. im Detail verstanden worden wären. Man versuchte sich in Präzision; und auf die Beobachtung "schwarzer Fleck vor der Sonne" ließ sich am einfachsten reimen, dass es sich dabei um einen Merkurdurchgang gehandelt haben muss, und man konnte sich dabei ohne weiteres auf das ägptische Kombimodell oder auch auf das ptolemäische Modell beziehen. Astronomisch gesehen spricht also nichts dagegen, dass die Texte Einhards und der Reichsannalen einer karolingischen Astronomie entsprechen könnten.

Aus Borsts "Buch der Naturgeschichte", Kapitel IV, stellt sich mir die Besonderheit der karolingischen Astronomie so dar: man beobachtete einerseits mit einfachen Hilfsmitteln den Himmel, um zumindest präzise die kirchlichen Festtage zu ermitteln, hatte aber andererseits zur Interpretation der Beobachtungen nur antike Texte "aus zweiter Hand" zur Verfügung, wie z.B. Plinius oder Martianus, so dass man angesichts der verwirrenden antiken Überlieferung der Jahreseckpunkte mit unterschiedlichen Datumsangaben und der ohnehin vorhandenen Kalenderdrift infolge der Ungenauigkeiten des Julianischen Kalenders sowie den Effekten der Präzession zu keiner präzisen und eindeutigen astronomischen Kalender- und Positionsbestimmung gelangte und den daraus entstehenden "Frust" vermehrt auch erkenntnisskeptisch äußerte - anders als bei der gleichzeitig aufblühenden islamischen Astronomie, wo der Almagest vorlag und einen konzeptionell-theoretischen Rahmen vorgab, durch den genauere astronomische Beobachtungen und Auswertungen möglich wurden.

Die Überlieferung zeigt jedoch laut Borst auch, dass zur Karolingerzeit Schilderungen von Sonnen-, Mond- und Planetenpositionen, wie oben bei den Reichsannalen, durchaus nicht einmalig, sondern auch später in verschiedenen Quellen auftauchen. Illig erwähnt nicht, dass z.B. von Hrabanus Maurus 820 ein lateinisches Werk "De computo" mit folgendem Beobachtungsbericht überliefert ist: "Jetzt eben, im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 820, im Monat Juli am neunten Tag des Monats, steht die Sonne im 23. Grad des Krebses, der Mond im 9. Grad des Stieres, Saturn im Zeichen des Widder, Jupiter in dem der Waage, Mars in dem der Fische. In welchem Zeichen sich Venus und Merkur aufhalten, sieht man nicht, weil sie derzeit im Tageslicht neben der Sonne stehen." (Borst, Seite 179)

Dieser Bericht könnte aus dem Jahr 820 stammen, er müsste aber nach Illig später entstanden und fingiert worden sein, da er mitten aus der "Phantomzeit" stammt. Wägen wir beides ab:

Falls es sich um eine echte Beobachtung des Jahres 820 handelt, dann müsste eine heutige Rückrechnung zur selben Gesamtkonstellation führen. Da Tierkreiszeichen und Sternbilder damals infolge der weniger fortgeschrittenen Präzession noch besser als heute übereinstimmten, habe ich mir folgendes Vorgehen überlegt: Wenn Überlieferung und Rückrechnung dasselbe Zeichen bzw. Sternbild ergeben, dann markiere ich dies als "Volltreffer" bzw. als "++", wenn Zeichen und Sternbild um eins voneinander abweichen, also unmittelbar benachbart sind, dann noch als "Treffer" bzw. als "+", andernfalls als "leider daneben" bzw. als "-". Mein Computerprogramm "Planetarium" rechnet durchgehend mit dem gregorianischen Kalender, die julianische Datumsangabe im Beobachtungsbericht muss also umgerechnet werden, und zwar sind laut Seleschnikow, Seite 69, für das 9. Jahrhundert 4 Tage zu addieren, die Beobachtung wurde also am 13.7.820 (gregorianisch) gemacht, und dafür ergibt sich:

       Objekt    Überliefert   Berechnet    Wertung

       Sonne     Krebs         Krebs        ++
       Mond      Stier         Stier        ++
       Saturn    Widder        Widder       ++
       Jupiter   Waage         Waage        ++
       Mars      Fische        Fische       ++
       Venus     Krebs         Krebs        ++
       Merkur    Krebs         Löwe         +
Der von Hraban überlieferte Beobachtungsbericht stimmt also ausgezeichnet mit heutigen Rückrechnungen überein. Aber auch Einzelheiten in diesem Bericht sind erstaunlich stimmig: dass Merkur nicht beobachtet werden konnte, ist zwar trivial, da er in unseren Breiten nur ganz selten mit bloßem Auge sichtbar ist, aber die Venus ist durchaus oft und über mehrere Monate als Abend- oder Morgenstern gut beobachtbar. Hraban sagt aber ausdrücklich, dass er die Venus nicht beobachten konnte, und auch das stimmt mit den heutigen Rückrechnungen überein, denn die Venus war damals tatsächlich nur ca. 3 Grad von der Sonne entfernt.

Laut Illig wäre diese Gesamtkonstellation zu späterer Zeit berechnet worden und der "Fälscher" des Beobachtungsberichts hätte dabei so von seinen Rechnungen überzeugt sein müssen, dass er selbst die Behauptung "Venus war nicht sichtbar" frech wagen konnte. Jedoch erst ab Mitte des 12. Jahrhunderts wurde der Almagest im lateinischen Mittelalter bekannt, und auch Tafelwerke (toledische und alphonsinische) zur Berechnung von Planetenpositionen standen erst im 12. und 13. Jahrhundert zur Verfügung. Ein Fälscher aus dem 12. bis 15. Jahrhundert hätte also 300 bis 600 Jahre ziemlich genau zurückrechnen müssen, um den Beobachtungsbericht zu fingieren; bekannt ist jedoch auch, dass diese Tafeln immer wieder an die tatsächlichen Planetenpositionen angepasst werden mussten, da sie bereits in einem Zeitraum von 100 Jahren zu ungenau wurden. Erst im 16. Jahrhundert, mit den auf der kopernikanischen Theorie basierenden Preußischen Tafeln des Erasmus Reinhold, konnten "alle Himmelsbewegungen rückwärts fast auf 3000 Jahre berechnet werden" (Reinhold, zit. n. Günther, Seite 91), aber auch dies war noch mehr ein frommer Wunsch, denn offensichtlich gab es auch dann noch größere Ungenauigkeiten: "Diese, die sogenannten Preußischen Tafeln, die der Wittenberger Professor Reinhold 1551 in Tübingen veröffentlichte, sollten die alten, schon lange unzulänglichen Alphonsinischen Tafeln ersetzen. Aber auch die Tafeln fanden keine allgemeine Anerkennung, und wenn sie auch bei der Gregorianischen Kalenderreform verwendet wurden, so war gegen Ende des Jahrhunderts doch die Überzeugung allgemein, dass es zunächst darauf ankomme, durch neue und bessere Beobachtungen der Gestirne eine ausreichende empirische Grundlage für eine Planetentheorie zu schaffen." (Becker, Seite 40) Im Jahr 1627 erschienen dann die Rudolphinischen Tafeln Keplers, die "bis in die Mitte des XVIII. Jahrhunderts von den Astronomen anerkannt und allgemein benutzt" wurden. (Günther, Seite 92)

Illig betont ebenfalls, dass die enormen Fehler Tycho Brahe "dermaßen gegen die noch immer verwendeten Tafeln aufgebracht [haben], dass er unermüdlich Beobachtungsdaten sammelte, aus denen sein Schüler Johannes Kepler (1571-1630) die Rudolphinischen Tafeln errechnete, die erst 1627 gedruckt wurden." (Seite 94) Doch auf derselben Seite behauptet Illig für die Jupiterbedeckung durch den Mond am 31.1.807 einfach das Gegenteil: "Und für den gut beobachteten Jupiter war eine Rückberechnung auch kein allzugroßes Problem." Wie's gerade passt, werden also die Tafelwerke einmal als sehr schlecht und dann wieder als so gut bezeichnet, dass selbst eine Jupiterbedeckung durch den Mond über mehrere Jahrhunderte zurückgerechnet worden könne. Hierzu schrieb mir Dr. Kokott, der mir wegen seiner Kenntnisse über die mittelalterlichen Tafeln aufgefallen war: "Völlig unmöglich zu berechnen war aber die Bedeckung des Jupiter durch den Mond am 31. Januar 807, die tatsächlich in Mitteleuropa sichtbar war. Die in den Tafelwerken (und sogar noch in den 1474 publizierten Ephemeriden von Regiomontanus) gebotenen Möglichkeiten hätten zwar für eine gezielte Schätzung ausgereicht, aber nichts spricht gerade für dieses Datum". (E-Mail vom 4.10.2000)

Bei Hrabans Beobachtungsbericht ist eine Fälschung aus dem hohen Mittelalter zwar gewagt, aber nicht ganz auszuschließen, während die Berechnung der Jupiterbedeckung ziemlich sicher kein Produkt mönchischer Schreibstuben des hohen Mittelalters war, wo der "gefälschte Karl" entstanden sein soll: "Die Hauptstationen seiner Erfälschung sind zweifellos während der ersten drei kaiserlichen Dynastien anzusiedeln, unter Sachsen, Saliern und Staufern" (Illig, Seite 336) - zu dieser Zeit standen aber gerade die für ihre großen Ungenauigkeiten bekannten toledischen Tafeln (und noch nicht einmal die verbesserten alphonsinischen) zur Verfügung, mit denen noch keine genauen astronomischen Rückrechnungen über mehrere Jahrhunderte zuverlässig möglich waren, und schon gar keine taggenauen Jupiterbedeckungen durch den Mond.

Keines der von Illig genannten Argumente spricht gegen eine karolingische Astronomie, im Gegenteil haben wir eher Indizien dafür gefunden, dass es sich bei den Überlieferungen um zwar unpräzise, aber dennoch authentische Beobachtungen handelt. Rekapitulieren wir Illigs Methode, wie er die Unmöglichkeit einer karolingischen Astronomie zu beweisen versucht: Man rede eine Situation herbei, wonach ein bestimmte Überlieferung völlig isoliert in der Geschichte dastehe und deshalb nicht aus der vermeintlich überlieferten Zeit, sondern aus einer späteren stammen müsse. Merkurdurchgänge hätten kein Vorbild und würden erst im hohen Mittelalter zum Thema, der Text in den Reichsannalen sei ganz und gar einmalig, die Präzision der astronomischen Angaben völlig unzeitgemäß, Sonnenflecken ohnehin erst eine Entdeckung des 17. Jahrhunderts. Das mag auf den ersten Blick überzeugend aussehen, stellt sich aber bei näherer Betrachtung als nur gekünstelt heraus. Zusammenhänge und Überlieferungen bleiben systematisch aus Unkenntnis oder Mutwilligkeit unerwähnt, wodurch erst die Besonderheiten einer bestimmten Kultur zu unmöglichen Singularitäten hochstilisiert werden können. Diese Methode funktioniert insofern recht gut, da der durchschnittlich gebildete Leser zu vielen angeschnittenen Themen zunächst meist weniger als Illig weiß; und erst dann, wenn man sich einzelne dieser Themen genauer ansieht, wird offensichtlich, dass viel mehr da ist als ein angeblich nur leeres frühes Mittelalter, gerade auch in der Astronomie.

Kurz noch zum zweiten, markant geschilderten Himmelszeichen aus Einhards Text, dem Boliden bzw. der Feuerkugel. Die entsprechende Textstelle ist bei Lewis' "Bomben aus dem All" in eine Aufzählung von Meteoriteneinschlägen eingebettet. Als ich Einhards Text in diesem Buch zum ersten Mal auf Seite 233 kennenlernte, hatte ich tatsächlich den Eindruck, dass in der Nähe von Karl und seinem Pferd ein Meteorit in den Boden eingeschlagen und beinahe Karl getroffen hätte. Aber Einhards Text spricht nur von einer sehr hellen Leuchterscheinung, weswegen das Pferd (oder vorher vielleicht Karl und deswegen das Pferd?) außergewöhnlich erschreckt wurden. Lewis schlägt dieses Leuchtereignis aber zur Kategorie der Meteoritenfälle und erwähnt es in der chronologischen Liste auf Seite 242 nochmals als solches. Wir haben also auch in heutiger Zeit durchaus noch "Verformungstendenzen" in der historischen Überlieferung (Demandt), und dies nicht nur bei Sonnen- und Mondfinsternissen, denn es werden auch helle Meteore (Boliden) zu Metoriteneinschlägen übersteigert, weil ein Autor möglichst viele und drastische Beispiele solcher teilweise verheerenden Einschläge dem Leser vermitteln will.

Im Übrigen ist "Bomben aus dem All", das ich wegen des Bildzeitungs-artigen Titels längere Zeit verschmäht habe, durchaus lesenswert und wichtig. Im amerikanischen Original heißt es poetischer und vielsagender "Rain of Iron and Ice". Und die Amerikaner verstehen durchaus etwas vom Geschäfte machen. Schade, dass gute Bücher durch solche reißerischen Aufmachungen dermaßen verhunzt werden.

Literatur

Becker, Friedrich: Geschichte der Astronomie, Bonn 1947 (zweite Auflage).

Borst, Arno: Das Buch der Naturgeschichte, Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg 1995 (zweite Auflage).

Demandt, Alexander: Verformungstendenzen in der Überlieferung antiker Sonnen- und Mondfinsternisse, Mainz 1970.

Einhard: Vita Caroli Magni / Das Leben Karls des Großen, Lateinisch / Deutsch, Stuttgart 1995 (Reclam).

Günther, Ludwig: Die Mechanik des Weltalls, Eine volkstümliche Darstellung der Lebensarbeit Johannes Keplers, besonders seiner Gesetze und Probleme, Leipzig 1909.

Hamel, Jürgen: Geschichte der Astronomie, Basel-Berlin-Boston 1998 (Birkhäuser).

Illig, Heribert: Das erfundene Mittelalter, Die größte Zeitfälschung der Geschichte, München 1999 (Econ, 3. Auflage).

Lewis, John S.: Bomben aus dem All, Die kosmische Bedrohung, Basel-Boston-Berlin 1997 (Birkhäuser).

Lindberg, David C.: Von Babylon bis Bestiarium, Die Anfänge des abendländischen Wissens, Stuttgart und Weimar 1994 (Metzler).

Platon: Sämtliche Werke, Band 5, Hamburg 1959/1977 (Rowohlt).

Reichsannalen, hrsg. von Winfried Bogon u.a., in: Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte, CD-ROM, Berlin 1999 (heptagon).

Seleschnikow, Semjon Issakowitsch: Wieviele Monde hat ein Jahr? Kleine Kalenderkunde, Moskau usw. 1981.

Sueton: Cäsarenleben, Stuttgart 1986 (Kröner).

Toomer, G.J.: Ptolemy's Almagest, Princeton 1998.

Wittmann, Axel: Feuer des Lebens, Vom Wunsch, die Sonne verstehen zu können, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Scheibe, Kugel, Schwarzes Loch, Frankfurt/Main und Leipzig 1996 (Insel TB).

Zinner, Ernst: Enstehung und Ausbreitung der copernicanischen Lehre, München 1988 (2. Auflage).



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