Vom Oktober 1815 bis Juni 1818 nahm der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso an einer "Reise um die Welt" "mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition" teil und veröffentlichte darüber ein "Tagebuch" und einen "Anhang, Bemerkungen und Ansichten". (Ich zitiere aus einer Lizenzausgabe des Buchclubs Ex Libris vom Winkler-Verlag, München 1975)

Auf der "Reise von Plymouth nach Teneriffa", vor dem 13. Oktober 1815, als sie mit ihrem Schiff "Rurik" etwa den 40. Breitengrad (Portugal), erreicht hatten, schreibt er schon: "Das große, das ehrfurchtgebietende Schauspiel bot uns der Himmel in seinen Veränderungen dar. Hinter uns senkte sich der Polarstern; und der Große Bär, noch beim Homer ['ammoros okeanoio'], unteilhaftig der Salzflut, tauchte seine Sterne nach einander ins Meer; vor uns aber erhob sich der Vater des Lichtes und des Lebens." -- also klare Fahrt von Nord nach Süd, von Mitternacht nach Mittag!

Nun lautet die Definition für zirkumpolare Sterne, die also ständig überm Horizont bleiben, die also "unteilhaftig der Salzflut" sind, dass deren Deklination >= "90 Grad minus geographischer Breite" sein müsse. Realistischerweise hat man es zwar selten mit einem ganz freien Horizont zu tun, und auch Dunst und atmosphärische Refraktion müssen berücksichtigt werden. Gerade aber bei einer Ozeanfahrt kann man ansetzen, dass sich idealer und realer Horizont nicht allzusehr unterscheiden (ich schätze ohnehin nur grob ab).

Ein Beispiel: München hat eine geografische Breite von 48 Grad und der hellste Stern im Fuhrmann, Capella, hat eine Deklination von 46 Grad. Da 46 > 90 - 48 ist, ist die Capella in München zirkumpolar.

Zum 40 Breitengrad:
Betrachtet man nur den auffälligen Großen Wagen, so hat der vordere Deichselstern, Alkaid genannt, eine Deklination von gut 49 Grad. 49 >= 90 - 40 ?, nein das gilt schon nicht mehr. Der wird bei seinem Tiefststand schon von der Salzflut geschluckt. Chamisso hat also die Situation richtig beschrieben.

Der 40. Breitengrad, das ist auch die geographische Breite für Süditalien, Nordgriechenland und, ziemlich genau, Ankara. Lissabon liegt etwas unterm 39. und Athen ziemlich genau am 38. Breitengrad.

Chamisso spielt mit dem Homerzitat darauf an, dass wegen der Präzession zur Zeit des Trojanischen Krieges und Homers, also ganz grob gesagt vor 3000 Jahren, der Himmelspol noch nicht mit unserem Polarstern übereinstimmte, die Sterne des Großen Bären noch größere Deklinationen hatten, näher beim nördlichen Himmelspol standen, und deshalb in Griechenland noch zirkumpolar waren.

In der Prosa-Übersetzung Wolfgang Schadewaldts lautet der Text aus dem 5. Buch der Odyssee: "Doch mit dem Ruder steuerte er kunstgerecht und saß, und es fiel ihm kein Schlaf auf die Augenlider, während er auf die Pleiaden blickte und den spät versinkenden Bootes und die Bärin, die sie auch 'Wagen' mit Beinamen nennen, die sich auf derselben Stelle dreht und späht nach dem Orion und hat allein nicht teil an den Bädern in dem Okeanos." (Bärin, wohlgemerkt)

Zum Jahreswechsel 1815/16 geht die Fahrt der "Rurik" von "Brasilien nach Chile", am 19. Januar sehen sie Feuerland und umsegeln dann das Kap Horn, was Chamisso zu einer Reflektion über das Sternbild "Kreuz des Südens" veranlasst: "Reisende pflegen am südlichen Himmel das Gestirn des Kreuzes mit den Versen Dantes 'Purgatorio' I. 22 u. folg. zu begrüßen, welche jedoch, mystischeren Sinnes, schwerlich auf dasselbe zu deuten sind. Sie pflegen überhaupt den gestirnten Himmel jener Halbkugel an Glanz und Herrlichkeit weit über den nördlichen zu erheben. Ihn gesehen zu haben ist ein Vorzug, der ihnen vor Nichtgereisten gesichert bleibt. Ossagen, Botokuden, Eskimos und Chinesen bekommt man bequemer daheim zu sehen, als in der Fremde; alle Tiere der Welt, das Nashorn und die Giraffe, die Boa- und die Klapperschlange sind in Menagerien und Museen zu Schau ausgestellt, und Wallfische werden stromaufwärts der Neugierde unserer großen Städte zugeführt. Das Sternenkreuz des Südens kann man nur an Ort und Stelle in Augenschein nehmen. -- Das Kreuz ist wahrlich ein schönes Gestirn und ein glänzender Zeiger an der südlichen Sternenuhr; ich kann aber in das überschwengliche Lob des südlichen Himmels nicht einstimmen; ich gebe dem heimischen den Vorzug. Habe ich vielleicht zu dem Großen Bären und der Kassiopeia die Anhänglichkeit, die der Alpenbewohner zu den Schneegipfeln hegt, die seinen Gesichtskreis beschränken?" (Os[s]agen sind Sioux, Botokuden brasilianische Indianer)

Die Stelle in Dantes Göttlicher Kömodie, im ersten Kapitel von "Fegfeuer", lautet in der Übersetzung von Karl Vossler:

"Ich wandte mich zur Rechten aufmerksam
dem Pol des Südens zu und sah vier Sterne
die niemand seit dem Sündenfall gesehen.
Der Himmel, schien es, freut sich ihres Glanzes.
Bedauernswertes Menschenland im Norden,
daß es dir nicht vergönnt ist, sie zu schauen."

Nun wendet Chamisso dagegen ein, dass damit kaum das heutige Sternbild Kreuz des Südens gemeint sein könne, oder anders gesagt, man müsse sich wundern, wenn es so wäre.

Dazu Rudolf Wolf in seinem "Handbuch der Astronomie" (Kap. 186, Zürich 1890, Nachdruck Amsterdam 1973):

"Crux, das südliche Kreuz, la croix du Sud. -- Seine Sterne stiegen in früherer Zeit noch in Alexandrien merklich über den Horizont, wurden aber von Ptolemäus, ja noch von Bayer, dem Centaur zugeteilt, wobei jedoch letzterer die Bemerkung machte, es sei aus ihnen von den neuern ein Kreuz gebildet worden. Es geschah dies vielleicht schon recht frühe (wahrscheintlich von den Arabern), da bereits Dante in seiner 'Divina Comedia' davon zu sprechen scheint, -- ziemlich sicher von den Spaniern..."

Es ist gar nicht so abwegig, dass Dante (1265-1321) vom Kreuz des Südens gewusst haben könnte, die Kreuzzüge waren schon vorbei, die Reisen eines Marco Polo hochaktuell, der z.B. schon von Japan und Sumatra berichte: "Die Insel liegt so weit im Süden, daß der Polarstern von dort nicht mehr zu sehen ist." (Drittes Buch, Kap. 10, Hrsg. v. Theodor A. Knust, Darmstadt 1983). Enge Kontakte der christlichen zur islamischen Kultur bestanden in Spanien und Süditalien. Dies der allgemeine Kontext.

Speziell zu Dante macht Azis S. Atija (in seinem Buch "Kreuzfahrer und Kaufleute, Die Begegnung von Christentum und Islam", München 1973) im Anhang geltend, dass viele zentralen Motive in der Göttlichen Komödie aus "mosleminischen Legenden", die teils auch in lateinischen Texten nacherzählt wurden, stammen und dass Dante enge Kontakte zu dem "Enzyklopädisten" Brunetto Latini unterhielt, der 1260 florentinischer Gesandter am Hof Alfons' des Weisen in Kastilien war, der wiederum ein großer Förderer der Astronomie war (ein Resultat waren z.B. die Alfonsinischen Tafeln). "Asin Palacios hat [1919] gezeigt, daß das unsterbliche Werk des größten Dichters der Renaissance im Innersten teilweise beeinflußt ist von islamischer Mystik, islamischen Legenden und islamischer Literatur." (S. 218)

Hier noch ein Eindruck, wie es unter Alfons dem Weisen zuging: "Alfons richtete eine Schule ein, der sowohl christliche und jüdische Gelehrte als auch ein zum Christentum bekehrter Moslem angehörte. Er saß dieser Gruppe gewissermaßen vor, sah ihre Arbeit durch und schrieb Teile von deren Einführung. Die Namen von fünfzehn Mitarbeitern kennt man von der vollständigen Sammlung der Alfonsinischen Bücher, die bedeutende Abhandlungen zu folgenden Themen enthält: Präzession, das universelle Astrolabium in verschiedenen Ausführungen, das sphärische Astrolabium, eine Wasseruhr und eine Quecksilberuhr, den einfachen Quadranten (der heute als der 'alte' bezeichnet wird), Sonnenuhren und Aequatoria. Die reiche und enzyklopädische Sammlung umfaßt mit dem Buch der Kreuze auch einen astrologischen Text. Die meisten der benutzten Quellen waren spanisch-arabisch. Man darf sich aber nicht vorstellen, daß es nur einen Ideenstrom in Richtung Europa gab. Daß in einem chinesischen Manuskript des folgenden Jahrhunderts genau derselbe Wert der Schiefe der Ekliptik (23;32,30°) wie in zweien der Alfonsinischen Bücher auftaucht, ist erstaunlich und hat wahrscheinlich etwas mit Kontakten zu muslimischen Astronomen zu tun, die unter mongolischer Schutzherrschaft arbeiteten." (John North: Viewegs Geschichte der Astronomie und Kosmologie, Braunschweig/Wiesbaden 1997, S. 148)

Ob im "Buch der Kreuze" das "Kreuz des Südens" erwähnt ist? -- Jedenfalls kann man sich leicht vorstellen, dass gerade am Hofe Alfons des Weisen die Idee eines "Kreuz des Südens" aufkam und dass sie durch Brunetto Latini dem Dante vermittelt wurde.


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