Ein schlechter Ruf überdauert leicht Jahrhunderte. So auch bei Hegel, als er, wie es heisst, die Entdeckung der Ceres (am Neujahrstag 1801) philosophisch widerlegt haben soll. Doch so gut wie nichts ist daran wahr, wie auch der folgende Text aus dem Jahr 1862 zeigt.

David Friedrich Strauß

Die Asteroiden und die Philosophen

aus: Kleine Schriften biographischen, literar- und kunstgeschichtlichen Inhalts, Leipzig 1862, S. 402 - 407. (Die folgende Abschrift hält sich möglichst an den ursprünglichen Wortlaut, man wundere sich also nicht, dass es z.B. "postuliren" anstatt "postulieren" heisst.)


In einem Artikel der Allgemeinen Zeitung, in dem es aus Anlaß der Schrift eines jener Jüngern, die selbst groß zu werden meinen, wenn sie die Großen klein machen, scharf über Philosophie und Philosophen herging, war kürzlich, wie es scheint aus eben diesem Buche, die Äußerung zu lesen: das Planetensystem habe sich der Hegel'schen Construction nicht fügen wollen. Ohne Zweifel ist damit dasselbe gemeint, was ich kurz vorher in einem andern Buche so ausgedrückt fand: Hegel habe den Asteroiden verboten entdeckt zu werden, sie seien aber doch entdeckt worden. Genug, die Sage geht: dieser Philosoph habe bewiesen, an einer Stelle unseres Planetensystems könne kein Planet sich befinden, wo fast zur selbigen Zeit einer und bald mehrere Planeten gefunden wurden.

Was ist an dieser Sage?

Ehe mit dem ersten Tag unseres [19.] Jahrhunderts der erste jener Doudez-Planeten entdeckt war, deren Anzahl, nachdem sie sich eine Zeit lang auf vier festgestellt zu haben schien, jetzt bereits die Zahl der deutschen Bundesstaaten überschritten hat, mußte der Sprung, den der allmählich wachsende Abstand der Planeten von einander auf einmal zwischen Mars und Jupiter zu machen schien, dem Philosophen, wenn er von astronomischen Dingen Notiz nahm, so gut wie jedem andern auffallen.

So hat sich schon Kant in seiner vor hundert Jahren entworfenen Naturgeschichte und Theorie des Himmels damit beschäftigt. Aber statt in die Lücke einen Planeten zu postuliren, sucht er sich vielmehr das Nichtvorhandensein eines solchen an dieser Stelle aus naturwissenschaftlichen Gründen zurecht zu legen. Die Zwischenräume zwischen den Planeten sind ihm die jetzt leeren Fächer, aus welchen diese vordem den Stoff zu ihrer Bildung hergenommen haben. Die Größe dieser Zwischenräume muß also im Verhältnis zu der Größe der Massen stehen, welche daraus gebildet worden sind. Nun ist die Weite zwischen dem Kreis des Mars und dem des Jupiter so groß, daß der darin beschlossene Raum die Fläche aller untern Planetenkreise zusammengenommen übertrifft. "Allein er ist", urtheilt Kant, "des größten unter allen Planeten würdig, desjenigen, der mehr Masse hat als übrigen zusammen"; wozu noch komme, daß, bei der mit dem Abstand vom Mittelpunkt abnehmenden Dichtigkeit des ursprünglichen Weltstoffs, der sonnenfernere Planet auch für eine nur gleiche Masse den Stoffinhalt eines weitern Kreises brauchte als der nähere. Und so vollkommen beruhigt sich Kant bei dieser Zurechtlegung des damaligen astronomischen status quo in Bezug auf das Planetensystem, daß er darin einen mächtigen Beweis für seine mechanische und gegen die gewöhnliche teleologische Vorstellung vom Weltgebäude zu finden glaubt; denn ein göttlicher Zweck oder Nutzen jenes größern Zwischenraums lasse sich gar nicht, wohl aber dessen nothwendige Entstehung nach Naturursachen einsehen.

Noch unmittelbarer als Kant mußte sich die Naturphilosophie auf diese Verhältnisse hingewiesen finden. Unter ihren Auspicien war es daher, daß Hegel, als er sich in Jena habilitirte, eben im Entdeckungsjahr der Ceres die Dissertation "de orbitis planetarum" schrieb, auf welche sich Schelling hernach zustimmend bezog. Nachdem er hier zuerst die Grundbegriffe der Schwere, der Centripetal- und Centrifugalkraft, mit fortlaufender Polemik gegen Newton dialektisch erörtert, hierauf die Kepler'schen Gesetze speculativ zu begründen versucht hat, kommt er auf dem letzten Blatt auch noch auf das Verhältnis der Entfernungen der Planeten zu sprechen. Dieses Verhältnis scheine zunächst, als ein rein empirisches, die Philosophie nichts anzugehen. Dennoch sei es eine unabweisliche Voraussetzung, welche aller Naturforschung zum Grunde liege, daß die Gesetze der Natur und die unserer Vernunft identisch seien. Nur dürfe man nicht jeden Schein eines verständigen Verhältnisses, der uns in der Natur entgegentrete, als ein Naturgesetz feststellen, und darum Thatsachen, die sich nicht damit vereinigen lassen, in Zweifel ziehen. So habe man in dem Verhältnis der Planetenabstände eine Art von arithmetischer Progression gefunden, und da nun die fünfte Stelle dieser Progression sich unbesetzt zeige, so werde zwischen Mars und Jupiter ein Planet vorausgesetzt und gesucht.

Sonderbar; von solchem Suchen spricht Hegel sonst mit ganz anderm Respect. "An dem Gesetz" -- sagt er einmal gar schön -- "daß die Cubi der mittlern Entfernungen verschiedner Planeten sich wie die Quadrate ihrer Umlaufzeiten verhalten, hat Kepler 27 Jahre gesucht; ein Rechnungsfehler brachte ihn wieder ab, als er früher einmal schon ganz nahe daran war es zu finden. Er hatte den absoluten Glauben, Vernunft müsse darin sein, und durch diese Treue ist er auf dieses Gesetz gekommen." War es denn aber nicht dieselbe Treue, Vernunft in der Natur vorauszusetzen, welche sich bei Piazzi, Olbers, mit der Entdeckung des ersten Asteroiden belohnte?

Die Sache ist, daß jene arithmetische Progression der Entfernungen unserm Philosophen nicht, wie die Potenzverhältnisse der Kepler'schen Entdeckungen, in der Würde eines Vernunftgesetzes erscheinen wollte. Nennt es doch auch A. von Humboldt im Kosmos nur ein sogenanntes Gesetz, und macht auf seine Ungenauigkeit für die Abstände zwischen Mercur, Venus und Erde, und sein supponirtes erstes Glied als unleugbare Mängel aufmerksam. Vielleicht ließe sich, meint Hegel am Ende, die pythagoräische Zahlenreihe von 1, 2, 3, 4, 9, 16, 27, nach welcher dem Timäus zufolge der Demiurg die Welt gestaltet habe, auf die Planeten anwenden; dann hätte man den größern Zwischenraum zwischen der vierten und fünften Stelle des Systems. Dieser hingeworfene Gedanke, der auch mehr in Schelling's als in Hegel's Art ist, wird jedoch nicht weiter ausgeführt.

Also: Kant suchte sich jenen vermeintlich leeren Zwischenraum naturwissenschaftlich begreiflich zu machen, und Hegel fand wenigstens die ungefähre arithmetische Progression der übrigen Planetenabstände nicht dazu angethan, um aus ihr wie aus einem begriffenen Weltgesetz auf das Dasein eines noch unentdeckten Planeten schließen zu dürfen. Hierin war nun, wie der Erfolg auswies, die empirische Naturforschung mit ihrem Analogieschluß auf dem richtigern Weg; doch auch sie fand ja gegen alle bisherige Analogie statt Eines großen Körpers viele kleine, mithin auch sie keineswegs das was sie erwartet hatte.

Und die Moral davon? der Grund, der mich diesmal nicht schweigen läßt? Um den einzelnen Philosophen ist es mir dabei weniger zu thun: obwohl auch der Einzelne immerhin den Anspruch hat, daß ihm nichts nachgesagt werde als was genau richtig ist. Auch sollten wir Deutschen, je seltner unter uns bis jetzt die kriegerischen und politischen Größen sind, mit um so mehr Pietät über dem Ruf unserer Helden in Kunst und Wissenschaft wachen, unter denen die der Philosophie eine so bedeutende Stelle einnehmen. Aber das ist es eben: man schraubt den Philosophen, und meint die Philosophie. Sie als Ideologie lächerlich zu machen, ist jetzt unter den Deutschen selbst guter Ton geworden. Dem Schreiber dieser Zeilen, wenn irgendwem, sind die Ausschweifungen der Naturphilosophie, von den auch Hegel sich nicht frei erhalten hat, überhaupt alles leere apriorische Construiren, zuwider; auch ist ihm wohl bewußt, daß der Tag der Philosophie vorerst abgelaufen und der der Empirie angebrochen ist. Aber er glaubt auch das zu wissen, daß ein guter Theil dessen, was die jetzige deutsche Geschichts-, Natur- und Kunstforschung vor der anderer Völker auszeichnet, eben daher rührt, daß dieser Periode der empirischen Ausbreitung bei uns eine Zeit der philosophischen Vertiefung vorangegangen war. Unser philosophisches Zeitalter und seine Heroen aus der Kette deutscher Ehre und Geistesentwickelung herausnehmen wollen, hieße eine Lücke machen, nicht minder unmöglich als die besprochene astronomische. Der Löwe ist todt; gewisse Tritte aber dürfen darum unter uns nicht Mode werden.


Literaturhinweis:

Hegel: Dissertatio Philosophica de Orbitis Planetarum -- Philosophische Erörterung über die Planetenbahnen. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Neuser, Weinheim 1986 (VCH Verlagsgesellschaft).


Page last modified on December 14, 2007, at 01:58 PM