Zum drittenmal (nach Hemingway über Rigel? und 1953-III-21) stolpere ich über unstimmige chronologische und astronomische Überlieferungen bei den Hemingways, diesmal durch Mary, Hemingways vierter Frau, als sie in der Karibik lebten.

In seiner Hemingway-Biographie schreibt Wolfgang Hartwig (Berlin 1989) auf Seite 366:

"Will man Mary Hemingways Erinnerungsbuch 'Wie es war' glauben, so haben sie und Ernest am 4. Mai 1953 auf der 'Pilar' in den Abendnachrichten aus Miami gehört, Hemingway habe den Pulitzer-Preis für Literatur erhalten. In der Nacht habe sie dann noch, wie sie das oft tat, einige astronomische Beobachtungen gemacht. Nicht nur der Titel des Buches weckt beim Leser Vertrauen, sondern auch die Tatsache, daß wiederholt Ereignisse geschildert werden, für die es andere Zeugen nicht gibt. Heute genügt ein Planetarium, die Schilderung und Glaubwürdigkeit der 'Amateurastronomin' zu widerlegen. Die von ihr geschilderte Sternenkonstellation gibt es in der geographischen Breite von zwanzig Grad nördlich des Äquators nicht."

4. Mai 1953: "In der Nacht weckte mich ein leichter Sprühregen, der mir aufs Gesicht fiel. Ich holte mir ein Bier aus dem Eiskasten direkt hinter Ernests Kopf und ging damit und mit einer Zigarette nach achtern. Ich sah die Kassiopeia, die Zwillinge, den Jäger und den Pegasus und in seiner Nähe ein anderes Sternbild, das ich nicht kannte. Jupiter strahlte im Westen, und ehe ich wieder einschlief, ging Venus wie eine silberne Grapefruit am östlichen Himmel auf." (Mary Welsh Hemingway: Wie es wirklich war, Reinbek 1977, Kap. 15, S. 273)

Hartwigs Schlussfolgerung:
"Ein Irrtum, wie er in erinnernder Rückschau immer möglich ist - und darum verzeihlich? Nein, schwerwiegend, weil ein scheinbar winziges Detail verrät, daß hier Legende geschrieben wird. Wenn Mary Hemingway diesbezüglich an der Wirklichkeit vorbeigeht, wieweit darf man dann ihren sonstigen Erinnerungen trauen? - "

Den Einwand Hartwigs, dass bei einer geographischen nördlichen Breite von 20 Grad diese Konstellation nicht beobachtet werden kann, kann ich nicht nachvollziehen, denn im Prinzip sind alle diese Sternbilder und Planeten von Cuba aus sichtbar, wenn man unter dem "Jäger" Orion versteht.

Aber seltsam ist diese Schilderung trotzdem. Wenn überhaupt, dann waren Jupiter, die Zwillinge und der "Jäger" am 4. Mai 1953 gerade noch gleich nach Sonnenuntergang sichtbar, hätten aber wahrscheinlich ein geübtes Auge erfordert, um sie zu identifizieren. Diese Beschreibung passt also nicht auf ein "in der Nacht weckte mich...".

Wenn man die Stunden kurz vor Sonnenaufgang in Betracht zieht, dann ergäbe sich folgendes Bild:

Saturn ging am Westhorizont langsam unter, Mary Welsh hätte ihn mit Jupiter verwechselt. Im Osten gingen Kassiopeia und der Pegasus und bald auch die Venus als Morgenstern auf.

Daraus folgt als erster Verdacht insgesamt, dass Mary Welsh nur vage astronomische Kenntnisse hatte, worauf auch ihr "Sternbild, das ich nicht kannte" hinweist. Diese Charakteristik träfe sogar dann zu, wenn sie an diesem Abend tatsächlich nicht den Sternenhimmel beobachtet hätte, denn wenn jemand mit halbwegs guten astronomischen Amateurkenntnissen Beobachtungen fingieren wollte, dann müsste er zumindest den Verdacht haben und sich folglich vergewissern, dass der Orion und die Zwillinge als typische Wintersternbilder im Mai allenfalls nur noch kurz nach Sonnenuntergang gesehen werden können.

Seltsam auch, dass Mary nicht den abnehmenden Mond (ein paar Tage nach Vollmond) erwähnt, der am 4. Mai 1953 in den Stunden vor Sonnenaufgang hoch am Himmel stand.

Die Beschreibung der Mary Welsh wirkt auf mich so, als ob sie von irgendwoher gehört hätte, dass die Venus Morgenstern ist und dass sie das übrige dazu gereimt hat, auf der Grundlage eines astronomischen Halbwissens. Warum aber dann dieses "Sternbild, das ich nicht kannte"? Hier entsteht der Eindruck, dass sie vielleicht doch etwas gesehen und eben dieses eine Sternbild nicht identifizieren konnte.

Vielleicht doch eher so: Sie wacht auf, sieht den Saturn, glaubt, dass es Jupiter sei. Sie sieht Cassiopeia und Pegasus, etwas später den Morgenstern. Später, beim Schreiben des Buches, hat sie den Rest mit den Zwillingen und dem "Jäger" hinzu fabuliert.

So oder so: verlässlich sind diese Angaben nicht, man ist also berechtigt, sich zu fragen, was sie sonst noch in ihrem Buch zusammengereimt hat.


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